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Übertragener Schmerz

Übertragener Schmerz ist ein klinisches Phänomen, bei dem Schmerzen an einer anderen Stelle als ihrem Entstehungsort beschrieben werden. 

Die häufigste Form ist Schmerzübertragung in Areale der Haut bei Erkrankungen der inneren Organe.

Grundsätzlich können Schmerzen jedoch aus allen Segmentqualitäten (Dermatome, Myotome, Enterotome, Sklerotome) in alle anderen übertragen werden. Einzig eine Schmerzübertragung aus den Dermatomen in die anderen Qualitäten ist nicht möglich.

Das Phänomen der Schmerzübertragung kommt durch einen Lokalisationsfehler des Gehirns zustande.

In diesem Artikel gehen wir genauer auf die Anatomie und Ursprung der Schmerzübertragung ein.

Inhalt
  1. Segmentale Gliederung 
  2. Überlappung der Segmentzuordungen 
  3. Schmerzkomponenten 
  4. Ursprungsgewebe des Schmerzes
  5. Schmerzübertragung bei Erkrankungen der inneren Organe
    1. Direkter Organschmerz 
    2. Übertragener Schmerz 
    3. Viszero-viszerale Reflexe bei Erkrankungen der inneren Organe 
  6. Schmerzübertragung bei Erkrankungen der Skelettmuskulatur 
  7. Schmerzgeneralisierung und Schmerzkrankheit 
  8. Begriffsabgrenzung zum projizierten Schmerz 
  9. Literaturquellen
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Segmentale Gliederung 

Chordaten (Wirbeltiere), zu denen auch der Mensch gehört, bestehen embryonal aus gleichartigen Abschnitten. Grundlage sind die Ursegmente, auch Somiten genannt, welche durch Segmentierung des Mesoderms entstehen. Deren dorsolateraler Anteil differenziert sich weiter, es bildet sich jeweils ein Dermatom und ein Myotom.

Im adulten Individuum ist eine solche Segmentierung nicht mehr zu erkennen, jedoch erklärt sich damit der Zusammenhang zwischen peripheren Nerven, Muskeln, Hautarealen und nervaler Versorgung innerer Organe. Die aus einem Somiten stammende Muskulatur (Myotom) und das entsprechende Hautareal (Dermatom) werden von Nervenfasern des entsprechenden Spinalnerven innerviert. Dies geschieht unabhängig von den Wanderungsbewegungen der Muskelanlagen und der Verschiebungen der Dermatome in deren jeweilige endgültige Lage.

Im Ergebnis besitzt der adulte Organismus Dermatome, Myotome und deren zugehörige Nerven sowie innere Organe. Durch die Wirbelsäule und die den Wirbeln zugeordneten Spinalnerven erhalten sie einen segmentartigen Charakter. Das Rückenmark besitzt indessen keine Segmentierung, viele Verarbeitungsprozesse laufen über das gesamte Rückenmark verteilt ab. Daher ist es sachlich falsch, von Rückenmarkssegmenten zu sprechen. Korrekt ist es, von Spinalnervensegmenten zu sprechen.

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Überlappung der Segmentzuordungen 

Alle inneren Organe sind von mehr als einem Spinalnervensegment versorgt und alle Spinalnervensegmente versorgen mehrere innere Organe. Aus diesem Grund kommt es zu großen Überlappungen. Für die Diagnostik bedeutet dies somit, dass kein Oberflächenareal der Haut bei der Palpation nur einem einzelnen Organ zugeordnet ist. 

Ebenso besitzen alle Skelettmuskeln der Extremitäten eine Innervation durch mehrere Spinalnerven, da sich diese erst zu Plexus zusammenfinden, aus denen dann die peripheren Nerven gebildet werden.

Das bedeutet, dass jede Palpation, bei der vom Patienten Schmerzen beschrieben werden, immer den Verdacht auf mehrere Organe lenken muss. Die sich ergebenden Verdachtsdiagnosen müssen dann durch die Anamnese abgeklärt werden. Der körperlichen Untersuchung liegt also eine Ungenauigkeit der Untersuchung (diagnostische Unschärfe) zugrunde. 

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Schmerzkomponenten 

Es gibt fünf Komponenten des Schmerzes:

  • sensibel bzw. sensorisch (Lokalisation, Intensität, Dauer und Art des Schmerzes) 
  • motorisch (reflektorische Muskelverspannungen, Bewegungs- und Fluchtreflexe, Schonhaltung etc.) 
  • vegetativ (Veränderungen von Blutdruck, Herzfrequenz, Pupillendurchmesser, Übelkeit, Erbrechen u.a.) 
  • affektiv (heftige Emotion, Schmerz "tut weh", ist unangenehm, erzeugt Leidensdruck) 
  • kognitiv (Bewertung des Schmerzes und der Umstände der verursachenden Faktoren) 

Ursprungsgewebe des Schmerzes

Schmerz kann in den Geweben aller Segmentqualitäten entstehen. Am häufigsten ist er in den inneren Organen, weil diese häufig primär oder sekundär befallen sind. 

Seltener sind hingegen Erkrankungen mit direkter Schädigung der Skelettmuskulatur oder der Haut, welche mit Schmerzentstehung einhergehen. Zu Sklerotomen fehlt die Datenbasis in Bezug auf Schmerzübertragungsphänomene und darum sind sie in dieser Aufzählung nicht eingeordnet. 

Schmerzübertragung bei Erkrankungen der inneren Organe

Bei Erkrankungen eines inneren Organs kann direkter Schmerz, übertragener Schmerz oder beides vorkommen. 

Direkter Organschmerz 

Schmerz des erkrankten Organs selbst, also direkter Organschmerz, beinhaltet Schmerzsignale, die vom Parenchym eines Organs ausgehen, jedoch nicht von seiner Kapsel. Der "Kapselschmerz" ist formal als Schmerz der tiefen Bedeckung zu verstehen. Direkter Organschmerz ist selten und wird vom Betroffenen nicht zwingend als solcher wahrgenommen. Er ist (äußerst) schlecht lokalisierbar, teils sehr diffus und mitunter nicht von der Körperposition (Stehen, Liegen, Sitzen) abhängig. Es kann zu spontanen Erscheinungen kommen und in der Regel ist er nicht durch Palpation auszulösen oder zu verstärken.

Wie der direkte Organschmerz zustande kommt, ist noch nicht für alle Organe geklärt. So ist beispielsweise die Leber nicht im nennenswerten Maße mit Nozisensoren ausgestattet. Dennoch ist auch hier ein direkter Organschmerz grundsätzlich möglich. Es ist davon auszugehen, dass er unter anderem durch Milieuvänderungen bedingt wird.

Funktionell lässt sich das wie folgend erklären: Bei einer krankhaften Veränderung des Parenchyms eines Organes kommt es vor allem zu (lokalen) Veränderungen von pH-Wert, Kaliumionenkonzentration und Calciumionenkonzentration (z.B. durch Zelllyse bei Nekrosen). Solche Veränderungen betreffen alle Stadien einer Erkrankung. Im Rahmen von Erkrankungen mit raumfordernden Prozessen kommt es hingegen eher zur Aktivierung von Nozisensoren. 

Die Ausstattung des Menschen mit einer hohen Innervationsdichte mechanisch aktivierbarer Nozisensoren ist phylogenetisch unlogisch, da es keinen Überlebensvorteil brächte und zusätzliche Ressourcen während der Organreifung und Entwicklung benötigen würde. Es ist also eher davon auszugehen, dass chemisch sensible nozizeptive Fasern für die Entstehung direkten Organschmerzes (zumindest zum Teil) verantwortlich sind.

Im Falle von Erkrankungen innerer Organe mit Befall des Peritoneum parietale führt die Palpation zum Schmerz. Dieser rührt jedoch vom Peritoneum her und nicht vom inneren Organ. Wird das Peritoneum als eigenes Organ betrachtet, so liegt in Bezug auf das Peritoneum direkter Organschmerz vor. 

Übertragener Schmerz 

Übertragener Schmerz ist deutlich häufiger als direkter Organschmerz. Bei übertragenem Schmerz handelt es sich um einen Lokalisationsfehler des Gehirns. Rund 85% aller Nozisensoren befinden sich in der Haut. Aufgrund der hohen nozizeptiven Innervationsdichte überschreiten Schmerzsignale der Haut viel häufiger die zentrale Schmerzschwelle als Schmerzsignale der Eingeweide.

Zudem konvergieren nozizeptive Afferenzen der Haut und der Eingeweide auf ein und demselben Hinterhornneuron. Überschreiten Schmerzsignale aus den Eingeweiden doch einmal die zentrale Schmerzschwelle, missdeutet das Gehirn den Schmerz als Hautschmerz in dem bzw. den zugehörigen Spinalnervensegmenten. 

Schmerzübertragung der Eingeweide in die Haut ist daher häufig. Es kann allerdings auch die Übertragung des Schmerzes in die Skelettmuskulatur und die tiefe Bedeckung vorkommen, genauso wie – in seltenen Fällen – auch direkter Organschmerz vorliegen kann. 

Übertragung in die Haut (oberflächliche Hyperalgesie, Head-Zonen)

Bei Erkrankungen der inneren Organe wird häufig die Haut hyperalgetisch. Das erkrankte Organ überträgt den Schmerz in die Dermatome, auf die Organ- und Hautafferenzen am Hinterhornneuron konvergieren. Der Schmerz wird als "hell" und gut lokalisierbar beschrieben. 

Die kutanen Hyperalgesieareale sind nur durch oberflächliche Palpation ermittelbar. Eine (sofortige) tiefe Palpation am Patienten sorgt ggf. für eine Druckhyperalgesie der tiefen Teile, welche die oberflächlichen Hyperalgesieimpulse überlagern kann.

Fast alle inneren Organe werden von mehreren Segmenten versorgt, ebenso sind viele Spinalnervensegmente mehreren Organen zugehörig. Beschreiben Patienten ihre Schmerzlokation, ist zudem fast nie die gesamte Fläche eines Dermatoms betroffen-vielmehr scheint die Ausbreitung fleckförmig zu sein. Bei unpaaren inneren Organen liegt der Schmerz zudem häufig auf der Körperseite des Organs. Herz und Magen gelten in diesem Zusammenhang als linksseitig liegend.

Tiefe Hyperalgesie

Der anatomische Hintergrund der tiefen Hyperalgesie nach Mackenzie gleicht prinzipiell dem der Head-Zonen: Vom entsprechenden Spinalnervensegment ziehen Fasern zum zugeordneten Myotom sowie dem Bindegewebe der Tiefe. Das Myotom entspricht den dem Segment zugeordneten Muskeln und liegt in der Tiefe. Der vom schmerzenden Organ auf das Myotom übertragene Schmerz ähnelt dem Organschmerz mehr als dem Hautschmerz. Er ist schlechter lokalisierbar, "dunkler" (= dumpfer) und häufig länger anhaltend.

Bei Organerkrankungen ist die tiefe Hyperalgesie seltener als die Hyperalgesie der Haut.
Die tiefe Hyperalgesie wird durch Druck aktiviert. Dies kann einerseits durch Palpation erfolgen, andererseits durch die Muskulatur selbst. Jede noch so kleine Bewegung beruht auf Kontraktionen verschiedener Muskeln. Daher ist bei inneren Erkrankungen der "Spontanschmerz" häufig eigentlich ein übertragener Schmerz der tiefen Teile durch kontraktionsbedingte Aktivierung druckhyperalgetischer Zonen.

Palpationsschmerz bedeckt nicht unbedingt die Fläche der Körperoberfläche auf welche das Organ bedingt durch seine anatomische Lage projiziert wird - da in der Tiefe die Schmerzübertragung auf Skelettmuskeln erfolgt, welche eine von der Organlage abweichende Ausdehnung zeigen.

Der "spontane" übertragene Schmerz in die Haut und die tiefen Lagen 

Schmerzübertragung in die Muskulatur erhöht den Muskeltonus. Dadurch kommt es zur Aktivierung muskeleigener nozizeptiver Sensoren. Das führt zu Spontanschmerz im betroffenen Myotom. Der Muskelschmerz wiederum erhöht reflektorisch den Muskeltonus (Circulus vitiosus). Alles, was den Muskeltonus verringert (z.B. Wärmeanwendungen, Massagen, pharmakologische Muskelrelaxantien), vermindert den Schmerz. Andersherum verringert alles, was den Schmerz vermindert (z.B. Analgetika), den reflektorischen Muskeltonus.

Die Erhöhung des Ruhetonus durch Schmerzübertragung in die Skelettmuskulatur ist abzugrenzen von der kontraktionsbedingten Aktivierung druckhyperalgetischer Zonen (s.o.). Bei letzterem handelt es sich um sekundären Muskelschmerz. Prinzipiell kann primärer Muskelschmerz auf innere Organe übertragen werden.

Daraus ergibt sich eine wichtige Erkenntnis: Übertragener Schmerz beschränkt sich nicht auf die Übertragung vom Organ zum Myotom und/oder Dermatom - sondern kann sich innerhalb der einzelnen Segmente in (fast) alle Richtungen übertragen, d.h. Enterotom, Myotom oder Dermatom können Empfänger, Enterotom und Myotom können Ausgangspunkt der Schmerzübertragung sein. Einzig die Übertragung von der Haut in andere Segmentqualitäten ist nicht möglich.

Daher kann es bei Erkrankungen der inneren Organe auch zur Schmerzübertragung in die Skelettmuskulatur kommen, die jedoch nicht mit haltungsbedingten symptomatischen Muskelschmerzen oder Erschöpfungsschmerz verwechselt werden dürfen.

Viszero-viszerale Reflexe bei Erkrankungen der inneren Organe 

Bei Erkrankungen innerer Organe tritt neben der sensiblen und motorischen Komponente die vegetative hinzu. Dazu gehören viszero-viszerale Reflexe.

Bei Erkrankung oder Reizung eines Organs kommt es zu Reaktionen in anderen Organen der gleichen Segmentzugehörigkeit. Da ein Organ in der Regel mehreren Spinalnervensegmenten zugeordnet ist (= Segmentsteuerung) und somit eine Reihe von Organen mit dem gleichen Segment in Verbindung steht, ergibt sich eine große Anzahl möglicher viszero-viszeraler Reflexe. So kennt man bei vielen organischen Erkrankungen die reflektorische Übelkeit bzw. das reflektorische Erbrechen.

Operative Eingriffe an inneren Organen führen trotz Allgemeinanästhesie mit Analgesie immer zu einem Trauma des Organs. Das Trauma führt zu Schmerzen am Organ, die postoperativ medikamentös behandelt werden (müssen). Postoperative Übelkeit nach Eingriffen an inneren Organen kann prinzipiell als viszero-viszeraler Reflex aufgefasst werden. 

Schmerzübertragung bei Erkrankungen der Skelettmuskulatur 

Erkrankungen der Skelettmuskulatur, die mit Schmerzen einhergehen, sind seltener als solche der Eingeweide. 

Sie können bei schweren Überlastungen vorkommen, die mit Muskelschädigung einhergehen. Auch bei Tumoren der Muskulatur sowie im Rahmen von Erkrankungen, bei denen raumfordernde Prozesse auf die Muskulatur wirken, kann es zu Schmerzen der Skelettmuskulatur kommen. Die Schmerzübertragung findet auch hier gehäuft in die Haut statt, jedoch ist auch die Schmerzübertragung in innere Organe möglich. Daher sind vegetative Reaktionen, die bei Schmerzen innerer Organe vorkommen, bei muskulären übertragenen Schmerzen möglich.

Schmerzgeneralisierung und Schmerzkrankheit 

Bisher wurden zwei Typen von Schmerzen bei Erkrankungen der inneren Organe beschrieben, der direkte Organschmerz und der übertragene Schmerz. Dabei handelt es sich jeweils um akute Geschehen. 

In der Praxis gibt es jedoch auch sehr häufig Patienten, bei denen der Schmerz sich verselbstständigt hat (Schmerzkrankheit). Bevor es jedoch zur Ausbildung einer Schmerzkrankheit kommt, bildet sich zunächst eine Schmerzgeneralisierung heraus. 

Die Schmerzgeneralisierung ist bedingt durch eine Verknüpfung von Segmenten über Neurone, die im Rahmen akuter Schmerzen ruhend sind. Dadurch kann der Schmerz sich über eine größere Fläche ausdehnen und es kommt zu einem "Segmentsprung". Besteht dieser Zustand fort, bildet sich später die Schmerzkrankheit aus, bei der es keine direkte Verbindung zwischen dem betroffenen Organ und den Schmerzen mehr gibt.

Hintergrund einer solchen Schmerzkrankheit sind neuroplastische Veränderungen im ZNS wie zum Beispiel eine Erhöhung der synaptischen Effizienz durch Langzeitpotenzierung. Daraus ergibt sich, dass eine frühzeitige - möglichst kausale - Behandlung von Schmerzen eine Schmerzkrankheit verhindern kann.

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Kim Bengochea Kim Bengochea, Regis University, Denver
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