Großhirnrinde und höhere kognitive Funktionen
Eine der Hauptaufgaben des zentralen Nervensystems ist die Verarbeitung (Integration) von Informationen. Was passiert beispielsweise, wenn wir uns einen Film anschauen? Mehrere Areale der Großhirnrinde (Cerebri cortex) verknüpfen visuelle und auditive Informationen, damit wir erkennen können, was auf dem Bildschirm zu sehen ist. Andere Hirnareale filtern relevante Inhalte heraus, um daraus neue Erinnerungen zu schaffen. Bei schummrigem Licht und einem langweiligen Film müssen außerdem die für die Wachheit zuständigen Strukturen besonders aktiv sein, damit wir nicht einschlafen.
Diese und andere kognitive Leistungen, die in der Großhirnrinde ablaufen, sind zusammen mit einfacheren Verarbeitungsprozessen für die Informationsintegration im zentralen Nervensystem verantwortlich. Man bezeichnet sie deshalb als integrative Funktionen des ZNS.
In der deutschsprachigen Physiologie wird nicht explizit zwischen „höheren” und „untergeordneten” Integrationsprozessen unterschieden. Dennoch lassen sich für ein besseres didaktisches Verständnis zwei funktionelle Ebenen beschreiben:
- Höhere kognitive Funktionen werden in der Großhirnrinde, insbesondere in den multimodalen Assoziationsarealen, verarbeitet. Sie sind für bewusste, komplexe Leistungen wie Sprache, Gedächtnis, Aufmerksamkeit und Planung verantwortlich.
- Subkortikale Integrationsprozesse hingegen finden in Strukturen wie dem Hirnstamm, dem Hypothalamus, dem Kleinhirn sowie im limbischen System statt. Dabei handelt es sich um unbewusste Vorgänge, etwa die Steuerung vegetativer, motorischer und emotionaler Funktionen.
In diesem Artikel befassen wir uns mit der Physiologie der Großhirnrinde und ihrer Bedeutung für komplexe kognitive Leistungen.
Höhere kognitive Funktionen | Sprache, Gedächtnis und Lernen, Aufmerksamkeit, Problemlösen, Selbstwahrnehmung, Entscheidungsfindung, u. a. |
Sprache | Broca-Areal (Sprachproduktion, Frontallappen) und Wernicke-Areal (Sprachverständnis, Temporallappen) |
Gedächtnisarten | Deklarativ (explizit): bewusste Erinnerung an Fakten/Ereignisse Nicht-deklarativ (implizit): Fertigkeiten und automatisierte Abläufe |
Gedächtnis-konsolidierung | Deklarativ: Hippocampus, Temporallappen Nicht-deklarativ: Basalganglien, Kleinhirn, motorische Areale |
Wachheit und Schlaf | Zirkadianer Rhythmus: gesteuert durch den Ncl. suprachiasmaticus (Hypothalamus) Schlafphasen: Non-REM und REM; REM-Schlaf wichtig für Träume und Gedächtniskonsolidierung |
Subkortikale Prozesse | Atmungs- und Kreislaufregulation, Temperaturregulation, motorische Koordination, grundlegende emotionale Reaktionen, usw. |
Höhere kognitive Funktionen
Funktionelle Anatomie der Großhirnrinde
Die Großhirnrinde kann funktionell gegliedert werden in:
- Primäre Rindenareale: Primär sensorische oder motorische Areale mit direktem sensorischen Input (z.B. visueller, auditorischer, somatosensorischer Kortex) bzw. motorischer Output (motorischer Kortex)
-
Sekundäre Assoziationsareale:
- Unimodale Assoziationsareale: Verarbeitung innerhalb einer Modalität (z. B. visuelle Weiterverarbeitung im sekundären visuellen Kortex)
- Multimodale Assoziationsareale: Integration verschiedener sensorischer Informationen, Grundlage für komplexe Leistungen wie Sprache, Handlungsplanung oder Selbstwahrnehmung
Viele Funktionen lassen sich bestimmten Bereichen der Großhirnrinde zuordnen. Zu den Beispielen solcher Funktionen und den dazugehörigen kortikalen Funktionszentren gehören:
- Bewegung: motorischer Kortex (Frontallappen)
- Somatosensorik: somatosensorischer Kortex (Parietallappen)
- Hören: auditorischer Kortex (Temporallappen)
- Sehen: visueller Kortex (Okzipitallappen)
Schau dir die Anatomie des Nervensystems in dieser Lerneinheit genauer an:
Kognition und Sprache
Zu den kognitiven Funktionen zählen das Erkennen, Verarbeiten und Reagieren auf Umweltreize sowie das Auslösen willkürlicher Reaktionen. Diese Prozesse bilden die Grundlage für höhere geistige Leistungen wie Selbstwahrnehmung, Aufmerksamkeit, Problemlösung und andere komplexe Verhaltensweisen. Die dafür verantwortlichen kortikalen Areale befinden sich überwiegend in den multimodalen Assoziationsarealen der Großhirnrinde.
Einige Beispiele sind:
- Persönlichkeit und Bewegungsplanung: präfrontaler Kortex im Frontallappen
- Räumliches Bewusstsein: Areale im Parietallappen
- Wiedererkennung von Objekten: Areale im Temporallappen
Einige dieser Funktionen sind lateralisiert, das heißt, sie sind bevorzugt in einer der beiden Hemisphären lokalisiert. So sind beispielsweise Aufmerksamkeit und Gesichtserkennung bei den meisten Menschen eher in der rechten Hemisphäre angesiedelt, während Sprache und Sprechen in der linken Hemisphäre verankert sind.
Sprache zählt zu den am intensivsten erforschten höheren kognitiven Leistungen. Zwei multimodale Assoziationsareale der Großhirnrinde sind maßgeblich an der Sprachverarbeitung beteiligt: eines für das Sprachverständnis, das andere für die Sprachproduktion.
- Das Wernicke-Areal liegt im Temporallappen an der Grenze zum Parietallappen und vermittelt das Sprachverständnis, also die Zuordnung der Bedeutung von geschriebenen oder gesprochenen Sprachreizen.
- Das Broca-Areal befindet sich im Frontallappen. Dieser Bereich steuert die Sprachproduktion, beispielsweise durch die Auswahl und Anordnung der Wörter beim Sprechen oder Schreiben.
Funktionsausfälle in einem dieser Areale führen zu typischen Sprachstörungen: Eine sensorische Aphasie (Wernicke-Aphasie) äußert sich durch beeinträchtigtes Sprachverständnis, während bei einer motorische Aphasie (Broca-Aphasie) die Sprachproduktion betroffen ist. Bei einer globalen Aphasie sind sowohl das Sprachverständnis als auch die Sprachproduktion betroffen.
Mehr über die funktionelle Organisation der Großhirnrinde erfährst du in unserer Lerneinheit zu den Brodmann-Arealen. Das zugehörige Video enthält außerdem klinische Hinweise zu verschiedenen Formen der Aphasie.
Lernen und Gedächtnis
Immer wenn wir neuen Informationen begegnen oder versuchen, eine neue motorische Aufgabe auszuführen, bilden wir neue Erinnerungen. Diese Lernprozesse finden in den multimodalen Assoziationsarealen verschiedener Hirnregionen statt. Die unterschiedlichen Gedächtnisformen können dabei anhand zwei verschiedener Kriterien eingeteilt werden.
Je nach Art der gespeicherten Informationen lassen sich Erinnerungen einteilen in:
- Deklaratives (explizites) Gedächtnis: Informationen, die bewusst abgerufen werden können und für kognitive Funktionen wie Urteilsvermögen und Bewertung relevant sind. Deshalb wird es auch als Wissensgedächtnis bezeichnet.
- Nicht-deklaratives (implizites) Gedächtnis: Fähigkeiten und Abläufe, die meist unbewusst erfolgen (z. B. die Bewegungsabfolge beim Trinken aus einer Tasse). Deshalb wird es auch als Verhaltensgedächtnis bezeichnet.
Je nach Speicherdauer lassen sich Erinnerungen einteilen in:
- Ultrakurzzeitgedächtnis: wenige Sekunden
- Kurzzeitgedächtnis (Arbeitsgedächtnis): einige Minuten
- Langzeitgedächtnis: Monate bis lebenslang
Du möchtest dein Wissen zur Anatomie des Nervensystems auffrischen? Teste dich selbst mit unseren interaktiven Quizzen zur Neuroanatomie und Arbeitsblättern zum Nervensystem!
Die Überführung von Erinnerungen vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis wird als Konsolidierung bezeichnet.
Dieser Prozess geht wahrscheinlich mit der Bildung neuer neuronaler Verbindungen und einer veränderten synaptischen Konnektivität einher. Ein zentraler zellulärer Mechanismus ist die Langzeitpotenzierung (long-term potentiation, LTP): Durch wiederholte Stimulation miteinander verbundener Neurone kommt es zu strukturellen (z.B. Wachstum von Dendriten) und chemischen Veränderungen (erhöhte Neurotransmitterausschüttung). Dadurch die synaptische Übertragung dauerhaft gestärkt wird.
Die Konsolidierung deklarativer Inhalte erfolgt hauptsächlich im Hippocampus und im Temporallappen, während der motorische Kortex, das Kleinhirn und die Basalganglien vor allem an der Konsolidierung nicht-deklarativer Erinnerungen beteiligt sind. Inhalte des Langzeitgedächtnisses werden häufig in den Arealen gespeichert, die funktionell mit dem jeweiligen Informationsgehalt verknüpft sind, beispielsweise visuelle Inhalte im Okzipitallappen oder motorische Abläufe in den motorischen Schaltkreisen.
Wachheit und Schlaf: Zirkadianer Rhythmus
Am Ende des Tages, wenn der Körper zur Ruhe kommt, schlafen wir ein. Der genaue Grund, warum wir schlafen, ist wissenschaftlich noch nicht vollständig geklärt. Fachleute vermuten jedoch, dass der Schlaf dazu dient, den Energieverbrauch zu senken, die körperliche Regeneration zu unterstützen und neuroplastische Prozesse zu fördern.
Obwohl Schlaf nicht zu den höheren kognitiven Funktionen zählt, hat er einen erheblichen Einfluss auf die Gehirnfunktion. Schlafmangel beeinträchtigt vor allem kognitive Leistungen wie Aufmerksamkeit und Entscheidungsfindung. Darüber hinaus wird angenommen, dass bestimmte Schlafphasen, insbesondere der REM-Schlaf, eine zentrale Rolle bei der Konsolidierung von Gedächtnisinhalten spielen.
Wie viele andere Körperfunktionen unterliegt auch der Schlaf einem zirkadianen Rhythmus, also einem etwa 24-stündigen Wechsel zwischen Wach- und Schlafphasen. Eine Schlüsselstruktur bei der Steuerung dieses Rhythmus ist der Nucleus suprachiasmaticus im Hypothalamus, der auch als „innere Uhr“ bezeichnet wird. Er erfasst den zeitlichen Verlauf unter anderem anhand der Dauer, die für den Abbau bestimmter Proteine benötigt wird.
Informationen aus dem Ncl. suprachiasmaticus werden mit Signalen aus retinalen Photorezeptoren integriert. Wenn das Umgebungslicht abnimmt und der Schlafprozess einsetzt, aktiviert der Ncl. suprachiasmaticus neuronale Signalwege, die die Kommunikation zwischen Thalamus und Kortex hemmen. Da die meisten sensorischen Informationen über den Thalamus vermittelt werden, reduziert dieser Mechanismus gezielt den sensorischen Input in die Kortexareale und senkt damit das Bewusstseinsniveau.
Subkortikale Integrationsprozesse
Subkortikale Integrationsprozesse koordinieren lebenswichtige, meist unbewusste Körperfunktionen. Dazu zählen:
-
Unmittelbare physiologische Grundbedürfnisse: Die Regulation von Körpertemperatur, Atmung, Blutdruck sowie Hunger und Durst erfolgt größtenteils über den Hirnstamm und den Hypothalamus. Diese Strukturen sind zentral für die Aufrechterhaltung der Homöostase.
- Emotionale Basisreaktionen: Sinnesreize, die zu emotionalen Reaktionen wie Angst führen, werden in derAmygdala und im Hirnstamm verarbeitet. Über efferente Bahnen (z. B. den Sympathikus) kann daraufhin eine schnelle Reaktion, wie die „Kampf-oder-Flucht-Reaktion”, ausgelöst werden.
- Motorische Koordination: Das Kleinhirn und das Rückenmark sind maßgeblich an der Verarbeitung von Körperlage und Muskelspannung beteiligt. Sie justieren fortlaufend die motorischen Signale, um Bewegungen zu stabilisieren und anzupassen.
Du willst mehr über das Thema Großhirnrinde und höhere kognitive Funktionen lernen?
Unsere Videotutorials, interaktiven Quizze, weiterführenden Artikel und ein HD Atlas lassen dich Prüfungen mit Bestnoten bestehen.
Womit lernst du am liebsten?
”Ich kann ernsthaft behaupten, dass Kenhub meine Lernzeit halbiert hat.”
–
Mehr lesen.
